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“Dass wir existieren, ist ein Beweis für gelebte Sexualität.”

Im Gespräch mit Dr. med. Kerstin Wissel

 

Dr. med. Kerstin Wissel arbeitet als Oberärztin mit Führungsverantwortung beim Checkpoint Zürich und führt seit einigen Monaten auch bei uns im Zentrum für Reisemedizin Beratungen durch. Von Sicherheitsaspekten über kulturelle Sensibilität bis hin zu den Auswirkungen von Dating-Apps und dem rechtlichen Status von LGBTQI+ Personen in verschiedenen Ländern - das Interview bietet eine Orientierungshilfe für alle queere Reisenden.

“Dass wir existieren, ist ein Beweis für gelebte Sexualität.”

Im Gespräch mit Dr. med. Kerstin Wissel

 

Dr. med. Kerstin Wissel arbeitet als Oberärztin mit Führungsverantwortung beim Checkpoint Zürich und führt seit einigen Monaten auch bei uns im Zentrum für Reisemedizin Beratungen durch. Von Sicherheitsaspekten über kulturelle Sensibilität bis hin zu den Auswirkungen von Dating-Apps und dem rechtlichen Status von LGBTQI+ Personen in verschiedenen Ländern - das Interview bietet eine Orientierungshilfe für alle queere Reisenden.

Bei uns im ZRM feiern wir auch dieses Jahr wieder den Pride Month und würden von Dir sehr gerne mehr zum Thema queeres Reisen erfahren.

Worauf sollten queere Reisende in Bezug auf Infektionskrankheiten achten, wenn sie verschiedene Länder besuchen? Welchen Fokus setzt Ihr in Euren Konsultationen beim Checkpoint?

Bei sexuell aktiven, queeren Reisenden schauen wir zusätzlich zu den allgemeinen Infektionsrisiken, wie beispielsweise für Malaria, auch das landesspezifische Risiko für sexuell übertragbaren Erkrankungen an. Zum Beispiel ist die HIV-Prävalenz in vielen afrikanischen Ländern, aber auch in einigen osteuropäischen Ländern, deutlich höher als bei uns. Auch Hepatitis C-Infektionen finden wir in der Schweiz eigentlich nur noch äusserst selten. Hingegen sehen wir bei uns in der Sprechstunde am Checkpoint doch auch immer wieder Reisende, die sich zum Beispiel während einer USA-Reise mit Hepatitis C infiziert haben.

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Auf Reisen verwenden viele Menschen Dating Apps um neue Menschen kennen zu lernen. Und doch gibt es Länder, in denen der Gebrauch gefährlich sein kann. Was sind die Risiken und worauf sollte man achten?

In Ländern, in denen Homosexualität immer noch eine Straftat ist und teilweise auch drakonisch bestraft werden kann, ist eben auch die Nutzung von queeren Datingapps wie beispielsweise “Grindr” nicht erlaubt. Ich selber habe wenig Erfahrungen damit gemacht, kenne aber Gerüchte, denen zufolge sich in gewissen Ländern Polizisten mit fake Profilen registrieren und Reisende im Falle einer Kontaktaufnahme in eine Falle locken. Es macht also definitiv Sinn, in Ländern, in welchen queeren Menschen die Todesstrafe oder Gefängnis droht, die Apps zu deinstallieren oder ganz vom Mobiltelefon zu löschen.

 

Und was sollte man der eigenen Sicherheit zuliebe in der Offline-Welt beachten, wenn es um das eigene Verhalten geht? Wie bereitest Du Reisende darauf vor, sensibel der Kultur vor Ort gegenüber und gleichzeitig aufmerksam zu sein, insbesondere in konservativen Ländern?

In der Offline-Welt ist es leider noch immer so, dass nicht alle Länder oder Regionen die gleiche Offenheit für die diversen Lebensrealitäten zeigen, wie wir sie beispielsweise hier in Zürich finden. Wichtig in der Reisevorbereitung ist daher, sich mit den geschriebenen, aber auch ungeschriebenen Regeln des Reiselandes vertraut zu machen. Das können klassische Quellen wie Reiseführer sein, aber auch Informationen vom EDA oder den Austausch mit Menschen, die bereits in die betreffenden Länder gereist sind. Es gibt aber auch spezialisierte Informationen auf Webseiten wie zum Beispiel «Spartacus».  Der Gay Travel Index zeigt sehr gut auf, wie queerfreundlich einzelne Länder sind. Nach gewissen Kriterien werden Punkte vergeben, wie zum Beispiel ob Strafe droht oder ob gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt sind. Er dient so als Barometer, welche Länder queerfreundlich sind, und welche Länder für queere Menschen eher schwieriger zu bereisen sind.
Ganz allgemein sollte man auch bedenken, dass nicht alles, was nicht explizit verboten ist, auch okay ist. Ich finde es wichtig, dass man die lokale Kultur und die lokalen Werte respektiert und nicht wie der Elefant im Porzellanladen auftritt - das gilt letztendlich für alle Reisende, egal ob queer oder cis-heteronormativ.

 

Wenn es um die Einreise geht; gibt es Dinge zu beachten, wenn man Medikamente aus der Schweiz mit sich mitführen möchte? Gibt es bestimmte Vorschriften oder Einschränkungen, die Reisende beachten sollten und wo informiert man sich am besten?

Grundsätzlich sollte für verschreibungspflichtige Medikamente auf Reisen immer eine ärztliche Bescheinigung mitgeführt werden. Diese bestätigt, dass es sich um persönlich benötigtes Arzneimittel handelt. In der Sprechstunde am Checkpoint stellen wir unseren Reisenden mit HIV-Medikamenten eine solche Bestätigung aus.
Herausfordernd wird die Situation in Ländern, in welchen HIV-Infektionen ein Einreisehindernis sein kann oder eben Queerness oder Homosexualität streng bestraft wird. Hier kann es manchmal tatsächlich eine Option sein, die Medikamente nicht offen zu deklarieren, um sich nicht allfälligen Gefahrensituationen auszusetzen. Beispielsweise kann man Medikamente in der Verpackung eines unverdächtigen Präparats mitführen. Es sind sicher spezielle Situationen, die man mit dem jeweiligen behandelnden Arzt / behandelnder Ärztin besprechen sollte. Das ist nicht legal, aber es ist schlussendlich auch nicht in Ordnung, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität zu benachteiligen oder zu verurteilen.

Informationen über die Einreisebestimmungen für Menschen, die mit HIV leben, findet man auf hiv-travel.org.

Ganz grundsätzlich ist es sicherlich wichtig, vor einer Reise sicherzustellen, dass man genügend Medikamente mit sich führt, so dass man im Reiseland nicht in Bedrängnis kommt, sich dort ärztlich vorstellen oder ein Medikament beschaffen zu müssen. In den meisten europäischen Ländern ist das kein Problem, man kann sich gut an eine Notfallstation oder Apotheke wenden und die Situation schildern. In Ländern, in welchen Homosexualität unter Strafe steht, und HIV ein Einreisehindernis darstellt, ist das nicht zu empfehlen. Es empfiehlt sich sogar eher, eine Therapiepause in Kauf zu nehmen, als sich dort vor Ort zu outen. Das ist jedoch etwas, das man im Vorherein mit der behandelnden Ärztin/ dem behandelnden Arzt besprechen sollte.

 

Nun noch zu Deiner persönlichen Arbeit: Inwiefern unterscheidet sich Deine Arbeit am Checkpoint Zürich von der Arbeit am Zentrum für Reisemedizin?

Die sind gar nicht so unterschiedlich, wie man auf den ersten Blick vielleicht meint. An beiden Orten beschäftigen wir uns mit präventiven Ansätzen und versuchen Infektionsgefahren im Voraus zu eruieren und zu bekämpfen. Im Zentrum für Reisemedizin ist das hauptsächlich die klassische Reiseberatung, beispielsweise mit Impfberatung, Malariaprophylaxe und Mückenschutz. Am Checkpoint steht vor allem die HIV-Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP) im Vordergrund. Anders an der Arbeit im Checkpoint ist, dass ich hier Patienten auch langfristig betreue, beispielsweise HIV-Patienten. Im Zentrum für Reisemedizin sieht man die Menschen leider immer nur ein einziges Mal. Ein grosser Unterschied ist tatsächlich auch, dass wir die Menschen im Checkpoint mit "Du" ansprechen und im Zentrum für Reisemedizin klassisch mit "Sie".

 

Das Thema Sexualität ist nicht ein Thema, über welches alle gleich gerne sprechen. Welchen Ansatz verfolgst Du bei der Gesprächsführung in Deinen Konsultationen?

Tatsächlich sind es sich viele Menschen nicht gewohnt, über Sex offen zu sprechen. Dabei ist Sexualität Teil unser aller Leben, und dass wir existieren, ist ein Beweis für gelebte Sexualität. Ich glaube, wenn man sich das bewusst macht, ist das bereits ein wichtiger Schritt. Ansonsten denke ich, dass es wichtig ist, Offenheit für das Thema zu zeigen und das auch zu signalisieren. Ein guter Einstieg kann beispielsweise eine kurze Info zu über Blut übertragbare Infektionen wie z.B. Hepatitis B sein. Hierbei erwähne ich dann ganz gerne, dass mögliche Ansteckungen auch über Sexualkontakte wie aber auch durch unsaubere Nadeln erfolgen kann. Als Ergänzung passt an der Stelle, dass auch HIV durch ungeschützte Sexualkontakte übertragen werden kann und dass die Prävalenz im Reiseland gegebenenfalls höher ist als bei uns in der Schweiz. Anschliessend kann man an dem Punkt gut die Frage stellen, ob noch weiterer Informationsbedarf besteht. Wird das bejaht, ist das ein guter Einstieg ins Thema. Aber man muss natürlich auch akzeptieren, wenn jemand nicht weiter drüber sprechen möchte.

 

Vielen Dank, Kerstin, für Deine Einsichten und praktischen Ratschläge zum Thema Sicherheit und Wohlbefinden von queeren Reisenden.

 

 

 

 

Interview: Sofia Ricar

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